Der Workaholic
Es ist Freitag, der 05. Januar 2024. Pünktlich um 09:00 Uhr morgens rollt der Bus der Adler Mannheim vom Parkplatz der SAP Arena. Das Ziel: Franken. Genauer gesagt Nürnberg. In der Arena Nürnberger Versicherung steigt am Abend das Duell mit den Ice Tigers. Coaches, Physios, Athletiktrainer und Spieler sitzen an Bord. Nur einer steigt an diesem Tag nicht mit seinem Team in den Doppelstockbus: Markus Hännikäinen.
Der 30-Jährige fühlt sich nicht gut, verbringt die gesamte Nacht auf der Toilette. Um die mögliche Ansteckungsgefahr zu minimieren, soll Hännikäinen vorerst zu Hause bleiben und den Verlauf beobachten. Der Zustand verbessert sich nur marginal. In der Zwischenzeit hat Physiotherapeut Steffen Nietschke, für diese Tour der Mann mit heilenden Händen, bereits eine Mitfahrgelegenheit für Hännikäinen organsiert. Um 14:15 Uhr steht Stadion-TV-Moderator und Webradio-Kommentator Antti Soramies vor dem Haus seines Landsmannes. Soramies' neuwertiges Aufklapphandy piepst – eine Nachricht von Hännikäinen. „Ich brauche noch zehn Minuten“, ist auf dem großen Display zu lesen. Kurz darauf geht die Beifahrertür auf, Hännikäinen steigt ins Auto, das die beiden Finnen nach Nürnberg bringen soll. Der Angreifer ist kreidebleich, sichtlich gezeichnet von einer schlaflosen Nacht. In der Hand hält er eine Flasche Wasser, versetzt mit einem Pulver, das den Elektrolythaushalt wieder auffüllt. „Ich weiß gar nicht, ob ich das drinbehalten kann, sei bereit anzuhalten“, sagt Hännikäinen, der trotz seines Zustandes nur das Spiel gegen die Ice Tigers im Kopf hat. Die Fahrt verläuft unproblematisch, ohne Zwischenfall.
Rund 210 Kilometer vom Treffpunkt entfernt, an der Raststätte Kammersteiner Land, legen die beiden eine Pause ein. Hännikäinen überwindet sich, ein Brötchen zu essen und ein Heißgetränk zu sich zu nehmen. „Wenn das drinbleibt, fährst du mich direkt zur Arena. Wenn nicht, musst du mich ins Hotel bringen“, lautet Hännikäinens unmissverständliche Anweisung – Brötchen und Heiß-getränk bleiben drin, zum Glück!
Als wäre nichts gewesen
An der Arena Nürnberger Versicherung angekommen macht Hännikäinen noch einen Spaziergang, vertritt sich die Füße, ehe er mit seiner Spieltagsroutine beginnt, die Schlittschuhe schnürt und das Trikot überstreift. Kurz darauf fällt der erste Puck, die Partie beginnt. Hännikäinen, angetrieben von seinem Ehrgeiz und dem unbedingten Willen, überwindet den inneren Schweinehund, macht ein überragendes Spiel. Er fährt Checks zu Ende, wirft sich in Schüsse, bringt vollen Einsatz. Kurz nach Beginn des zweiten Drittels erzielt er sogar das zwischenzeitliche 2:2. Die qualvollen Stunden, die Hännikäinen hinter sich hat, merkt man ihm zu keiner Zeit an. Das Duell mit den Franken geht aber verloren. Über die großteils durchwachsene Leistung der Mannschaft wird erst später diskutiert. Vielmehr ist Hännikäinens Auftritt Gesprächsthema Nummer eins, alle sind beeindruckt und voll des Lobes. Angesprochen auf diesen Tag, auf dieses Spiel sagt Hännikäinen mit einem verschmitzten Grinsen nur: „So bin ich halt, das ist mein Naturell.“
Hännikäinen wächst in seiner Geburtsstadt Helsinki auf. Dort, auf der Halbinsel am Finnischen Meerbusen, erlernt er erst das Schlittschuhlaufen, dann das Eishockeyspielen. „Als Finne beginnst du früher oder später mit Eishockey. Eishockey ist die Sportart Nummer eins in Finnland. Jeder hat seinen Lieblingsclub, verfolgt die Spiele. Ich habe es auch mal ein bisschen mit Fußball probiert, bis ich 13, 14 Jahre alt war. Aber wenn du als finnisches Kind davon träumst, Profisportler zu werden, dann im Eishockey. In jedem Park entsteht im Winter eine Eisfläche, so ist es ganz leicht, dass jeder schon früh mit Eishockey in Verbindung kommt. Ich glaube, bei mir war das im Alter von dreieinhalb Jahren. Mein älterer Bruder hat auch gespielt, gehörte schon einer Mannschaft an. Ich wollte auch unbedingt für eine Mannschaft spielen, aber für derart junge Altersklassen gibt es das noch nicht. Irgendwann habe ich aber doch ein Team gefunden, das mich trotzdem aufgenommen hat. So habe ich rund zwei Jahre ausschließlich unter Älteren gespielt, ehe ich als Sechsjähriger zu Jokerit gewechselt bin, wo ich bis zu meinem 21. Lebensjahr blieb. Ich bin also durch und durch ein Jokerit-Produkt.“
Die Punkteausbeute des heute 30-Jährigen hält sich in jungen Jahren in Grenzen. Doch früh in seiner Kindheit entwickelt Hännikäinen einen schier unbändigen Willen, einen Kampfgeist, der seinesgleichen sucht. Er realisiert, dass Leistungssport ohne harte Arbeit nicht möglich ist. Fortan geht Hännikäinen an seine Grenzen – und darüber hinaus. Im Sommertraining. In den Off-Ice-Einheiten während der Saison. Im Eistraining. Im Spiel. „Als ich als unter 18-Jähriger im U20-Team von Jokerit mitspielen konnte, habe ich gemerkt, dass ich wohl ganz gut Eishockeyspielen kann. Ich war nie der beste Spieler, der talentierteste Spieler oder der Star-Spieler meines Teams, aber mir wurde klar, dass ich trotzdem eine Chance habe, wenn ich weiter hart arbeite. Ich habe erkannt, dass ich keine offensichtliche Stärke wie einen guten Schuss oder tolle Hände habe, sondern dass meine Arbeitseinstellung mein größter Pluspunkt ist. Gerade im Nachwuchs lassen viele Kids die richtige Einstellung und die nötige Leidenschaft vermissen, um es wirklich bis zum Profi zu schaffen.“
Traum spornt ihn an
Im Alter von 18 Jahren bestreitet er das erste Spiel für seinen Heimatverein in der Liiga, Finnlands höchster Spielklasse. Der Konkurrenzkampf ist riesig. Von 2011 bis 2014 pendelt Hännikäinen zwischen Jokerits U20-Team, der Profimannschaft und Kiekko-Vantaa aus der unterklassigen Mestis. Doch der damals strohblonde Junge, der wie jeder andere Nachwuchsspieler von der großen Karriere in der National Hockey League (NHL) träumt, beißt sich durch und lässt sich trotz Rückschlägen nicht von seinem Weg abbringen. Der führt ihn im April 2014 zu JYP Jyväskylä, wo ihm der Durchbruch gelingt. 23 Tore und 33 Vorlagen verbucht Hännikäinen in 72 Partien für Jokerits Ligakonkurrenten – mit gerade einmal 20 Jahren. „Wenn du als junger Spieler hochspielst oder du deine ersten Partien im Profi-Bereich machst, sammelst du für gewöhnlich nicht ganz so viele Scorerpunkte. So war es zumindest bei mir. Also habe ich mein Spiel drumherum entwickelt. Als ich zu JYP gewechselt bin, war es ein eher kleines Team. Ich habe recht viel Eiszeit bekommen, hatte dennoch jede Menge guter Spieler um mich. Es war ein Schneeballeffekt. Ich holte mir schnell Selbstvertrauen, wodurch es besser und besser für mich lief“, sagt Hännikäinen, der in jener Saison aufgrund der besten Plus/Minus-Bilanz sogar die Matti-Keinonen-Trophy erhält.
Dass Hännikäinen sich mit starken Leistungen verdächtig macht und plötzlich auf dem Radar etlicher NHL-Clubs auftaucht, wird ihm erst später bewusst. Obwohl der 1,86 Meter große und 91 Kilogramm schwere Angreifer im Draft, bei dem die NHL-Clubs sich die Rechte an vielversprechenden Talenten sichern, nicht gezogen wurde, unterschreibt er einen Einstiegsvertrag bei den Columbus Blue Jackets – der Traum von der besten Liga, er ist zum Greifen nah. „Ich war so glücklich über das Angebot, denn ehrlicherweise dachte ich nicht, dass ich es wirklich mal bis in die NHL schaffen würde. Mir war klar, dass ich diesen Schritt gehen werde, auch wenn das heißt, dass ich mich durch die AHL kämpfen muss“, kann Hännikäinen sein Glück nicht fassen.
Gelungene Debütsaison in Übersee
Im Sommer 2015 packt er seine sieben Sachen und startet in ein neues Abenteuer. In Amerika. In einem Land, in dem die Mentalität eine andere ist. In dem die Uhren gänzlich anders ticken, als er aus seiner Heimat gewohnt ist. Die Umstellung ist riesig. Doch erneut packt Hännikäinen der Ehrgeiz. Er will das entgegengebrachte Vertrauen der Blue Jackets rechtfertigen, zeigen, dass seine Verpflichtung kein Irrtum ist. Zwar beginnt Hännikäinen die Saison 2015/16 bei den Lake Erie Monsters, dem Farmteam der Blue Jackets, sein erstes Jahr in Übersee hätte aber nicht besser verlaufen können. Im November wird er nach Columbus berufen, feiert kurz darauf sein NHL-Debüt und gewinnt am Ende der Spielzeit mit den Monsters gar den Calder Cup in der unterklassigen American Hockey League (AHL). „Wir haben von den letzten 15 Hauptrundenpartien zwölf gewonnen, es damit überhaupt erst in die Playoffs geschafft. Wir hatten mit vielen Verletzungen über die gesamte Saison zu kämpfen, in den Playoffs haben wir uns dann aber gefunden. Wir haben mit 15:2-Siegen den Cup geholt. Besser war bisher niemand. Wir waren richtig gut. Es gab keinen Zweifel, dass wir das beste Team waren. Meine einzige Profi-Meisterschaft bisher.“
Dass im erbarmungslosen NHL-Geschäft nur das Leis-tungsprinzip zählt, bekommt auch Hännikäinen zu spüren. In den fünf Jahren, in denen er in Nordamerika aktiv war, muss Hännikäinen ständig zwischen den Blue Jackets und dem Farmteam hin und her wechseln. Heute blickt der sympathische Stürmer auf 166 AHL-Spiele und 92 NHL-Partien zurück, der Durchbruch in der besten Liga der Welt gelingt ihm aber nicht. „Das erste Jahr in Cleveland war gut, denn mir war klar, dass ich zunächst in der AHL spielen werde. Ich war darauf vorbereitet, nicht enttäuscht, dass es mit der NHL nicht gleich klappt. Ich war jung, ich hatte viel Spaß, wir haben alles gewonnen. Die Reise hätte gar nicht besser beginnen können. Als ich aber vier Jahre später in die AHL geschickt wurde, kamen erstmals die Gedanken, Nordamerika zu verlassen. Als mir der Trainer plötzlich sagte, dass ich kein Spiel in der NHL mehr machen würde, egal, wie gut ich bin, war ich sehr enttäuscht. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber er hielt Wort. Ich wurde nach Arizona getradet, was ich zunächst als neue Chance begriff. Ich wurde aus der AHL ins NHL-Team berufen, doch dann kam Corona und beendete meine Nordamerika-Karriere von jetzt auf gleich. Ich bin stolz und froh über die Erfahrung, die ich sammeln durfte. Von vorne anfangen wollte ich aber nicht mehr.“
Sightseeing in Russland
Enttäuscht über das unrühmliche Ende seines Nordamerika-Abenteuers beschließt Hännikäinen, in seine Heimat und zu Jokerit zurückzukehren. Der Traditionsclub mit dem markanten Joker auf der Brust spielt zu diesem Zeitpunkt in der multinationalen Kontinental Hockey League (KHL), lange Reisen nach Russland – teils sogar bis zur Grenze zu Asien – prägen den Alltag. „So ein Flug dauert dann schon mal gerne seine rund zwölf Stunden. Wir hatten aber immer unsere eigene Charter-Maschine, schliefen in großartigen Hotels. Ich konnte in meinem Haus leben, in einer tollen Liga gegen tolle Mannschaften mit unglaublichen Spielern spielen. Städte, Länder bereisen und sehen, die ich sonst nie besucht hätte. Es war unter dem Strich eine unglaubliche Erfahrung“, blickt der Finne mit positiven Erinnerungen an seine Zeit bei Jokerit zurück.
Hännikäinen fühlt sich demnach wohl, spielt zudem eine wichtige Rolle im finnischen KHL-Team. Bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Als Konsequenz auf den durch die Russen angezettelten Krieg zieht sich Jokerit aus der KHL zurück, stellt nach einer bis dahin starken Saison mit Platz zwei den Spielbetrieb ein – mit verheerenden Folgen für Hännikäinen. Nicht nur, weil er mit ansehen muss, wie sein Herzensverein von heute auf morgen von der sportlichen Landkarte verschwindet. Nein. Er selbst ist plötzlich arbeitslos, weiß nicht, wie es mit ihm weitergeht. „Nachdem der Krieg begonnen und sich Jokerit aus der KHL zurückgezogen hatte, war das zunächst eine riesige Enttäuschung. Gerade weil wir zu dieser Zeit wirklich gut unterwegs waren. Wir sind als Zweiter in die Playoffs eingezogen. Es war gleichzeitig auch existenzbedrohend für mich, denn im Anschluss ist Jokerit zunächst von der Bildfläche verschwunden. Meinen Heimatclub gab es nicht mehr.“
Bis an die Grenze
Das Gefühl der Ungewissheit verfliegt jedoch schnell. Jan-Axel Alavaara hat Hännikäinen seit geraumer Zeit auf dem Schirm. Alavaara, von 2018 bis 2023 Sportmanager der Adler, zögert nicht lange, lotst den harten Arbeiter erstmals nach Mannheim, wo er aufgrund seiner Leistungen und seines Kampfgeistes schnell die Herzen der Adler-Fans erobert. Doch Hännikäinens Engagement in der Eishockeystadt ist nicht von Dauer. Nur drei Monate später wechselt er nach Schweden, spielt fortan für Linköping HC. Der Kontakt zu den Adlern bricht aber nie ab. Nach nur einer Saison, in der Linköping zum fünften Mal in Folge die Playoffs verpasst, heuert Hännikäinen ein zweites Mal in Mannheim an.
Mit den Adlern erlebt er aktuell eine durchwachsene Spielzeit. Doch in der Phase, in der die Blau-Weiß-Roten in einem Tief stecken, geht Hännikäinen mit gutem Beispiel voran, holt in jedem Spiel alles aus sich heraus, rackert, kämpft bis zum Umfallen. Das liegt bekanntlich an seinem Naturell. Hännikäinen ist auf dem Eis ein Krieger. Aufgeben, das Handtuch schmeißen, kommt für ihn nicht in Frage. Koste es, was es wolle. „Es wird kein Spiel geben, in dem ich nicht Vollgas gebe. Das wäre sonst nicht mehr ich. Ich werfe immer alles rein. So bin ich. Dafür werde ich bezahlt. Natürlich spielt man nicht immer gut, macht Fehler, hat mal ein schlechtes Spiel. Aber meine Einstellung wird immer dieselbe sein. Wenn ein Spiel gespielt wird, geht es darum, in diesen zweieinhalb Stunden alles rauszuholen. Das Spiel ist das Einzige, was zählt.“ Die Aussage eines wahren Workaholics.